... 3. Wortmühle.
Im Spannungsfeld von linearer Zeitlichkeit und optischer Gegenwart befasst sich Dagmar Rhodius mit dem geschriebenen Wort. Dabei bedient sie sich im wesentlichen zweier Verfahren: sie stellt verschiedene Stadien sprachgeschichtlicher Abschleifungen nebeneinander. Sie überlagert gewöhnlich linear zu lesende Buchstabenfolgen zu piktogrammartigen Zeichen. Beide Verfahren werden kombiniert.
a. Abschleifen
Eine Reihe von Fotografien – sie entstehen Mitte der achtziger Jahre – zeigt mit Buchstabenzeichen konfrontierte Steinstrände und Steinküsten. Dabei konzentriert Rhodius den Blick auf gerundete Steine, das heißt Steine, deren Kanten vom ständigen Anprall des Meeres abgeschliffen wurden, Steine, die von der Brandung wie Mühlsteine gegeneinander gerieben und geglättet wurden. Die abgeschliffenen Steine stehen im Kontrast zu den schroffen Klippen der Küste, die das Wasser noch nicht erreichte. Ihre Rundung ist das Resultat eines Jahrhunderte und Jahrtausende währenden Prozesses.
Dieses natürliche Abschleifen lässt sich im weitesten Sinne mit einem Phänomen der Sprachgeschichte vergleichen: dem „Abschleifen“ von Worten. Dabei handelt es sich um einen historischen Prozess, der den einzelnen Sprecher übersteigt und der sich aus seiner Perspektive gleichsam naturhaft vollzieht. Abschleifungen ereignen sich innerhalb einer Sprachfamilie etwa, wenn sich das lateinische „civitas“ (Staat) zum italienischen „città“ (Stadt) verkürzt. Sie überschreiten aber auch alle nationalen und sprachverwandtschaftlichen Grenzen. Drei von Dagmar Rhodius aufgegriffene Abschleifungsreihen seien genannt, wobei „Abt“ und „city“ auf den in Kempten aufgestellten Pyramiden erscheinen:
GAUDIA -
(lateinisch)
CIVITAS -
(lateinisch)
ABBATEM -
(lateinisch)
GIOIA -
(italienisch)
CIUDAD -
(spanisch)
ABBOT -
(englisch)
JOIE -
(französisch)
CITTÀ -
(italienisch)
ABBÉ -
(französisch)
JOY
(englisch)
CITY
(englisch)
ABT
(deutsch)
b. Überlagern
Dagmar Rhodius überlagert die gewöhnlich nacheinander angeordneten Buchstaben eines Wortes. Dabei hebt sich die lineare Zeitlichkeit und Lesbarkeit des Wortes auf in die Gleichzeitigkeit und Präsenz von Bildzeichen. Die überlagerten Buchstaben erzeugen Zeichen mit häufig bizarrer Silhouette, Bildformen, deren Deutung offen ist. Das Wort ähnelt nun einer Hieroglyphe, einem chinesischen Schriftzeichen oder einem Logogramm.
Sobald jedoch der Betrachter, der hier gleichzeitig Leser ist, das Wort kennt, welches das Zeichen birgt, beginnt seine gleichsam archäologische Aktivität: Er versucht im Innenraum die sich überlagernden Buchstaben wiederzuerkennen. Er versucht die Gleichzeitigkeit projektiv aufzulösen und in der Gegenwart des Zeichens die Spuren der Zeit wiederzuentdecken ...
Ausstellungskatalog „Dreizehn Künstler an sieben Orten in Kempten im Allgäu“, Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Kempten 1991
... 3. Wortmühle.
Im Spannungsfeld von linearer Zeitlichkeit und optischer Gegenwart befasst sich Dagmar Rhodius mit dem geschriebenen Wort. Dabei bedient sie sich im wesentlichen zweier Verfahren: sie stellt verschiedene Stadien sprachgeschichtlicher Abschleifungen nebeneinander. Sie überlagert gewöhnlich linear zu lesende Buchstabenfolgen zu piktogrammartigen Zeichen. Beide Verfahren werden kombiniert.
a. Abschleifen
Eine Reihe von Fotografien – sie entstehen Mitte der achtziger Jahre – zeigt mit Buchstabenzeichen konfrontierte Steinstrände und Steinküsten. Dabei konzentriert Rhodius den Blick auf gerundete Steine, das heißt Steine, deren Kanten vom ständigen Anprall des Meeres abgeschliffen wurden, Steine, die von der Brandung wie Mühlsteine gegeneinander gerieben und geglättet wurden. Die abgeschliffenen Steine stehen im Kontrast zu den schroffen Klippen der Küste, die das Wasser noch nicht erreichte. Ihre Rundung ist das Resultat eines Jahrhunderte und Jahrtausende währenden Prozesses.
Dieses natürliche Abschleifen lässt sich im weitesten Sinne mit einem Phänomen der Sprachgeschichte vergleichen: dem „Abschleifen“ von Worten. Dabei handelt es sich um einen historischen Prozess, der den einzelnen Sprecher übersteigt und der sich aus seiner Perspektive gleichsam naturhaft vollzieht. Abschleifungen ereignen sich innerhalb einer Sprachfamilie etwa, wenn sich das lateinische „civitas“ (Staat) zum italienischen „città“ (Stadt) verkürzt. Sie überschreiten aber auch alle nationalen und sprachverwandtschaftlichen Grenzen. Drei von Dagmar Rhodius aufgegriffene Abschleifungsreihen seien genannt, wobei „Abt“ und „city“ auf den in Kempten aufgestellten Pyramiden erscheinen:
GAUDIA -
(lateinisch)
CIVITAS -
(lateinisch)
ABBATEM -
(lateinisch)
GIOIA -
(italienisch)
CIUDAD -
(spanisch)
ABBOT -
(englisch)
JOIE -
(französisch)
CITTÀ -
(italienisch)
ABBÉ -
(französisch)
JOY
(englisch)
CITY
(englisch)
ABT
(deutsch)
b. Überlagern
Dagmar Rhodius überlagert die gewöhnlich nacheinander angeordneten Buchstaben eines Wortes. Dabei hebt sich die lineare Zeitlichkeit und Lesbarkeit des Wortes auf in die Gleichzeitigkeit und Präsenz von Bildzeichen. Die überlagerten Buchstaben erzeugen Zeichen mit häufig bizarrer Silhouette, Bildformen, deren Deutung offen ist. Das Wort ähnelt nun einer Hieroglyphe, einem chinesischen Schriftzeichen oder einem Logogramm.
Sobald jedoch der Betrachter, der hier gleichzeitig Leser ist, das Wort kennt, welches das Zeichen birgt, beginnt seine gleichsam archäologische Aktivität: Er versucht im Innenraum die sich überlagernden Buchstaben wiederzuerkennen. Er versucht die Gleichzeitigkeit projektiv aufzulösen und in der Gegenwart des Zeichens die Spuren der Zeit wiederzuentdecken ...
Ausstellungskatalog „Dreizehn Künstler an sieben Orten in Kempten im Allgäu“, Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Kempten 1991