Worte, die an der Zeit sind.
Im Nýlistasafnið befindet sich zur Zeit eine äußerst bemerkenswerte Ausstellung. Die deutsche Künstlerin Dagmar Rhodius zeigt riesige Fotografien von Ufergeröll, in die unleserliche Wörter hineingearbeitet sind. Sie geht beim Schreiben so vor, dass sie jeden Buchstaben über den anderen setzt, so dass daraus eine dicke, schwarze und unleserliche Masse wird. Diese Masse ist aus den verschiedensten Gründen interessant. In ihr verbirgt sich schwarz auf weiß die unterschiedliche „Verwitterung“ der Sprachen. Oder wenn man die Worte von Jean Baudrillard im Katalog zitieren will: „... sich erhebende Sprachblöcke, die einer unentrinnbaren Erosion unterworfen sind, tausendjährige Ablagerungen, deren transversale Tiefe der Verwitterung entstammt (der Sinn entsprang der Erosion der Wörter, die Bedeutung der Erosion der Zeichen) und die wie alle Kultur heute dazu ausersehen sind, Naturschutzparks zu werden.“
Der Ausstellungskatalog ist gut gemacht und ungewöhnlich interessant. Dort ist unter anderem dieser Gedanke von Einar Guðmundsson zu finden: „Worte sind Pfadfinder; ihr Weg ist lang, sie nehmen Verwandlungen hin wie von Wassertropfen gehöhlte Steine.“ Die Worte des deutschen Wissenschaftlers Wilhelm von Humboldt mit Bezug auf die „Abschleifung und Abstumpfung bedeutsamer Laute“ sollten ebenfalls in diesem Schlaraffenzeitalter des Geschwafels ihre Berechtigung haben. Die tiefgründige Metaphorik von Dagmar Rhodius scheint auf diese Weise direkt gegen das geräuschvolle Dröhnen der Medien gerichtet zu sein, aber die furchterregende Bildhauertätigkeit der Zeit ist kaum ein weniger gewichtiger Faktor in diesem Zusammenhang. Wird es wohl noch lange dauern, bis alle Nominative im Isländischen unter den Tisch fallen und „bátur“ zu „bát“ wird oder gar „bat“? Im Werbejargon von heute ist es selbstverständlich, derartig auf Wort und Zeit einzuhacken. Wörter dürfen in Zeit und Raum keinen Platz wegnehmen, und deswegen müssen um jeden Preis zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: Sie müssen zurechtgesäbelt werden, und sie müssen einen lautstark anschreien. ...
Übersetzung aus dem Isländischen: Coletta Bürling
Dagblaðið Vísír Reykjavík 6.10.1988.
Worte, die an der Zeit sind.
Im Nýlistasafnið befindet sich zur Zeit eine äußerst bemerkenswerte Ausstellung. Die deutsche Künstlerin Dagmar Rhodius zeigt riesige Fotografien von Ufergeröll, in die unleserliche Wörter hineingearbeitet sind. Sie geht beim Schreiben so vor, dass sie jeden Buchstaben über den anderen setzt, so dass daraus eine dicke, schwarze und unleserliche Masse wird. Diese Masse ist aus den verschiedensten Gründen interessant. In ihr verbirgt sich schwarz auf weiß die unterschiedliche „Verwitterung“ der Sprachen. Oder wenn man die Worte von Jean Baudrillard im Katalog zitieren will: „... sich erhebende Sprachblöcke, die einer unentrinnbaren Erosion unterworfen sind, tausendjährige Ablagerungen, deren transversale Tiefe der Verwitterung entstammt (der Sinn entsprang der Erosion der Wörter, die Bedeutung der Erosion der Zeichen) und die wie alle Kultur heute dazu ausersehen sind, Naturschutzparks zu werden.“
Der Ausstellungskatalog ist gut gemacht und ungewöhnlich interessant. Dort ist unter anderem dieser Gedanke von Einar Guðmundsson zu finden: „Worte sind Pfadfinder; ihr Weg ist lang, sie nehmen Verwandlungen hin wie von Wassertropfen gehöhlte Steine.“ Die Worte des deutschen Wissenschaftlers Wilhelm von Humboldt mit Bezug auf die „Abschleifung und Abstumpfung bedeutsamer Laute“ sollten ebenfalls in diesem Schlaraffenzeitalter des Geschwafels ihre Berechtigung haben. Die tiefgründige Metaphorik von Dagmar Rhodius scheint auf diese Weise direkt gegen das geräuschvolle Dröhnen der Medien gerichtet zu sein, aber die furchterregende Bildhauertätigkeit der Zeit ist kaum ein weniger gewichtiger Faktor in diesem Zusammenhang. Wird es wohl noch lange dauern, bis alle Nominative im Isländischen unter den Tisch fallen und „bátur“ zu „bát“ wird oder gar „bat“? Im Werbejargon von heute ist es selbstverständlich, derartig auf Wort und Zeit einzuhacken. Wörter dürfen in Zeit und Raum keinen Platz wegnehmen, und deswegen müssen um jeden Preis zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: Sie müssen zurechtgesäbelt werden, und sie müssen einen lautstark anschreien. ...
Übersetzung aus dem Isländischen: Coletta Bürling
Dagblaðið Vísír Reykjavík 6.10.1988.